Kompromissbereitschaft bei Idealen/Arbeitsethos

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Hallo miteinander,

mich beschäftigt seit längerer Zeit die Frage, wie weit man seinen Idealismus oder eigene Ansprüche zurückstellen sollte, um nicht an der Arbeitsrealität zu zerbrechen oder sich selbst in eine Position zu bringen, in der man dann gar keinen Einfluss mehr hat, wie Arbeit gestaltet wird. Bleibt man seinen Idealen treu und sucht einen Ort, an dem diese vollständig und ohne Kompromisse ausgelebt werden können und geht das Risiko ein, diesen Ort niemals zu finden, weil er ein Luftschloss ist oder wird man Teil eines Systems, in dem man seine Ideale oft zurückstellen muss und manchmal auch entgegen dieser handeln muss, aber dann zumindest reale eine kleine Verbesserung erreichen kann.

Vielleicht erzähle ich ein bisschen was über den Kontext, in dem mir diese Gedanken(immer mal wieder) durch den Kopf gehen. Derzeit befinde ich mich im letzten Jahr meiner Ausbildung zum Landschaftsgärtner und blicke im Sommer meiner Abschlussprüfung entgegen. Die Inhalte der Ausbildung finde ich wirklich interessant , insbesondere die Botanik und Vegetationstechnik haben es mir angetan. Genau so wichtig finde ich aber auch den Umweltschutz, der in meinem Bereich konkret Boden- und Baumschutz umfasst. In diesem Bereich hapert es aber in der Praxis gewaltig, wie ich leider immer wieder in meinem Lehrbetrieb, aber auch in anderen Firmen feststellen muss. Es werden Gesetze missachtet, die dem Schutz des Bodens/Bodenlebens und der Bäume dienen. Beispielsweise muss der belebte Bereich des Bodens(ca. 30-40cm Schichtstärke) beim Aushub separat gelagert werden und darf nicht verunreinigt oder mit anderen Schichten vermischt werden. Bei längerer Lagerung muss er zwischenbegrünt und in sog. Mieten gelagert werden. Das wird bei uns leider kaum beachtet und auch bei anderen Firmen, deren Baustellen ich manchmal sehe, ist das unüblich. Ähnlich düster sieht es beim Baumschutz aus. Da wird mit dem tonnenschweren Bagger im Kronenbereich des Baumes gearbeitet, Wurzeln abgerissen und allerlei anderer Frevel betrieben. Dabei sollte den Menschen allein aus Selbsterhaltungsgründen jeder Baum wichtig sein, besonders in der Stadt und gerade als GÄRTNER.

Das war und ist für mich stellenweise so belastend, dass ich schon oft mit dem Gedanken gespielt habe, die Ausbildung abzubrechen, es letzten Endes aber nicht getan habe, weil ich endlich etwas abschließen möchte und die Hoffnung habe, etwas zum Positiven verändern zu können, wenn ich mal ausgelernt habe. Ich denke, dass mein Wort dann auch mehr Gewicht haben wird.

Aber dann flüstert eine Stimme ,dass ich mir selbst etwas vormache. Wird man nicht selbst zum Teufel, wenn man sein Spiel mitspielt? Ist es nicht besser, gleich zu handeln anstatt auf eine bessere Gelegenheit zu warten? Ist man überhaupt noch fähig, im Arbeitsleben zurechtzukommen, wenn man seine Ideale unversöhnlich vertritt oder wird man dann zu einem verbitterten Außenseiter, der zwar auf seinem erhabenen moralischen Ross sitzt, aber in der Realität nichts verändert hat?

Mich würden eure Gedanken dazu sehr interessieren, denn andere Menschen haben andere Perspektiven.
Alles verändert sich nur, nichts stirbt.

Ovid

Re: Kompromissbereitschaft bei Idealen/Arbeitsethos

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Meine Antwort dazu wäre, dass es dazu keine allgemeingültige Lösung gibt, sondern jeder das für sich selbst definieren/entscheiden müsse in wiefern man wozu bereit ist. Ich würde zusammengefast sagen, so dass man sich selbst guten Gewissens im Spielgel gegenübertreten kann.

Lässt sich für dich als zukünftigen Arbeitgeber vielleicht eine Firma finden, bei der Umweltschutz vielleicht ihre Spezialisierung sind?

Ich bin in der Sache vermutlich kein brauchbares Vorbild, da ich für meine Werte keine Kompromisse machte. Das würden manche vermutlich als zu radikal oder stur betrachten, weshalb ich das so auch niemandem raten würde. Mir das andererseits aber auch am allerwertesten vorbei geht, denn niemand anderes bestimmt was ich für Werte in meinem Leben habe.

Falls sich kein Arbeitgeber für deine Werte finden ließe, wäre eine mögliche Konsequenz diesen Beruf dann ggf. nicht mehr ausüben zu können. Oder Alternativen zu finden, vielleicht in einer Baumschule, oder Friedhofsgärtnerei, städische Grünanlagenpflege, etc. wo du vielleicht mit deinen Werten nicht diese persönlichen Konflikte hast. Oder vielleicht auch mehr Möglichkeit, etwas selbst zu entscheiden.

Re: Kompromissbereitschaft bei Idealen/Arbeitsethos

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Ailanthus hat geschrieben: Sa 2. Mär 2024, 22:21 Hallo miteinander,

mich beschäftigt seit längerer Zeit die Frage, wie weit man seinen Idealismus oder eigene Ansprüche zurückstellen sollte, um nicht an der Arbeitsrealität zu zerbrechen oder sich selbst in eine Position zu bringen, in der man dann gar keinen Einfluss mehr hat, wie Arbeit gestaltet wird. Bleibt man seinen Idealen treu und sucht einen Ort, an dem diese vollständig und ohne Kompromisse ausgelebt werden können und geht das Risiko ein, diesen Ort niemals zu finden, weil er ein Luftschloss ist oder wird man Teil eines Systems, in dem man seine Ideale oft zurückstellen muss und manchmal auch entgegen dieser handeln muss, aber dann zumindest reale eine kleine Verbesserung erreichen kann.

Vielleicht erzähle ich ein bisschen was über den Kontext, in dem mir diese Gedanken(immer mal wieder) durch den Kopf gehen. Derzeit befinde ich mich im letzten Jahr meiner Ausbildung zum Landschaftsgärtner und blicke im Sommer meiner Abschlussprüfung entgegen. Die Inhalte der Ausbildung finde ich wirklich interessant , insbesondere die Botanik und Vegetationstechnik haben es mir angetan. Genau so wichtig finde ich aber auch den Umweltschutz, der in meinem Bereich konkret Boden- und Baumschutz umfasst. In diesem Bereich hapert es aber in der Praxis gewaltig, wie ich leider immer wieder in meinem Lehrbetrieb, aber auch in anderen Firmen feststellen muss. Es werden Gesetze missachtet, die dem Schutz des Bodens/Bodenlebens und der Bäume dienen. Beispielsweise muss der belebte Bereich des Bodens(ca. 30-40cm Schichtstärke) beim Aushub separat gelagert werden und darf nicht verunreinigt oder mit anderen Schichten vermischt werden. Bei längerer Lagerung muss er zwischenbegrünt und in sog. Mieten gelagert werden. Das wird bei uns leider kaum beachtet und auch bei anderen Firmen, deren Baustellen ich manchmal sehe, ist das unüblich. Ähnlich düster sieht es beim Baumschutz aus. Da wird mit dem tonnenschweren Bagger im Kronenbereich des Baumes gearbeitet, Wurzeln abgerissen und allerlei anderer Frevel betrieben. Dabei sollte den Menschen allein aus Selbsterhaltungsgründen jeder Baum wichtig sein, besonders in der Stadt und gerade als GÄRTNER.

Das war und ist für mich stellenweise so belastend, dass ich schon oft mit dem Gedanken gespielt habe, die Ausbildung abzubrechen, es letzten Endes aber nicht getan habe, weil ich endlich etwas abschließen möchte und die Hoffnung habe, etwas zum Positiven verändern zu können, wenn ich mal ausgelernt habe. Ich denke, dass mein Wort dann auch mehr Gewicht haben wird.

Aber dann flüstert eine Stimme ,dass ich mir selbst etwas vormache. Wird man nicht selbst zum Teufel, wenn man sein Spiel mitspielt? Ist es nicht besser, gleich zu handeln anstatt auf eine bessere Gelegenheit zu warten? Ist man überhaupt noch fähig, im Arbeitsleben zurechtzukommen, wenn man seine Ideale unversöhnlich vertritt oder wird man dann zu einem verbitterten Außenseiter, der zwar auf seinem erhabenen moralischen Ross sitzt, aber in der Realität nichts verändert hat?

Mich würden eure Gedanken dazu sehr interessieren, denn andere Menschen haben andere Perspektiven.
Hey, danke für deinen Beitrag!
Ich kann sehr viele deiner Gedanken gut nachvollziehen.

Und ich möchte dich ermutigen, an deinen Idealen festzuhalten! Ich finde Idealismus wichtig und positiv: auch wenn er einen mitunter zu Entscheidungen "zwingt", die sich sehr schwierig anfühlen, gibt er Orientierung und Klarheit. Zu wissen, was dir wichtig ist, wird dir im Berufsleben langfristig nützen, davon bin ich überzeugt. Auch wenn das selbst wohl idealistisch ist. 😉 Manchmal bewirkt man auch schon viel, indem man "nur" Gewohnheiten hinterfragt und alternative Ideen vorschlägt. Aber man muss sich auch nichts vormachen, so ein Idealismus kann auch schnell dazu führen, dass man sich allein und als stetiger "Nörgler" fühlt, als Bedenkenträger abgestempelt wird..

Schließe deine Ausbildung ab und gehe dann gezielt auf die Suche nach Arbeitgebern, denen dieselben Dinge wichtig sind, wie dir. Vielleicht kommen auch Naturschutz Vereine in Betracht oder Schutzgebiete, Umweltbildungseinrichtungen etc.?
Ich bin in der Thematik nur hobbymäßig aktiv, in meiner socialMedia Bubble gibt es auch unter Gärtnern einige, die zB über den richtigen Schnitt von Gehölzen und Bäumen aufklären und das einfach zu ihrem Thema gemacht haben. Wirtschaftlichkeit und Naturschutz scheinen sich durchaus vereinbaren zu lassen, auch wenn es vielleicht (noch) eine Nische ist.

Wahrscheinlich wirst du trotzdem immer wieder frustrierende Erfahrungen machen oder das Gefühl haben, immer der/diejenige zu sein, der "unbequem" ist und sich nicht mit "das haben wir immer schon so gemacht" zufrieden gibt. Und eine gewisse Kompromissbereitschaft halte ich auch für unbedingt wichtig. Manches muss eben pragmatisch gelöst werden, damit verrät man nicht seine Ideale. Die Balance sollte unterm Strich halt stimmen.

Nur Mut! Du bist nicht allein. 😊

Re: Kompromissbereitschaft bei Idealen/Arbeitsethos

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Hallo @Ailanthus!

Ich kenne dieses moralische Dilemma auch und kann mich den anderen Antworten anschließen. Letztlich ist es eine Frage des "richtigen" Gleichgewichts - nur was ist "richtig"?
Auch wenn diese Antwort nicht unbedingt befriedigend ist, ich denke, da muss letztlich jeder sein Maß für sich finden. Für mich ist z.B. im Ingenieurwesen klar, dass sobald es um die Gesundheit oder das Leben von Menschen geht, keine Kompromisse mehr gemacht werden dürfen. Da wäre ich dann super pedantisch, auch auf die Gefahr hin andere damit zu vergraulen. Am Ende des Tages musst du, wie @Indie schon gesagt hat, dich selbst noch im Spiegel anschauen können.

Ich verstehe zwar nicht viel von Gärtnerei, aber ich denke ich würde meine Grenze hier auch ähnlich wie in meinem Beruf ziehen: Beispiel Baum: Wenn ich einen Baum verpflanzen/beschneiden oder wie auch immer pflegen würde, sodass ich hinterher Sorge haben muss, dass er umstürzt, Äste abbrechen o.ä., dann würde das für mich zu weit gehen. Wenn ich hingegen zwar weiß, dass die zum Pflanzen verwendete Erde zwar theoretisch zu lange/falsch gelagert wurde, aber ich mir der Erfahrung nach recht sicher bin, dass der Baum trotzdem anwachsen und weiterleben wird, dann würde ich an der Stelle über den Fehler hinwegsehen.
Und für Situationen, die irgendwie dazwischen liegen, würde ich erstmal eine Weile beobachten und Protokoll führen. Z.B. wenn immer wieder Bäume nicht anwachsen und absterben und du immer wieder feststellst, dass dafür falsch gelagerte Erde verwendet wurde. Das kann man beobachten und nach einer gewissen Zeit dem Vorgesetzten melden. Dann aber nicht als "wir haben das schon immer falsch gemacht", sondern "ich habe folgenden Zusammenhang beobachtet und schlage vor es ab jetzt mit anderer Erde zu versuchen, um weniger Verluste zu haben". Der richtige Ton in der Kommunikation wirkt hier oft wunder und wenn man dem Chef klar machen kann, dass er hier Geld sparen kann, indem er eine empfohlene Methode einsetzt, hat er sicher auch nichts dagegen. (und falls doch, hast du es immerhin gemeldet)

Letztlich kannst du da nur in dich hineinhören wo deine persönliche Grenze liegt. Sobald du das Gefühl hast, dass etwas wirklich nicht hinnehmbar ist, ist es vollkommen in Ordnung auf deiner Position zu beharren. Ich persönlich erkenne diesen Punkt immer daran, dass ich mir plötzlich keine Gedanken mehr darüber mache, ob ich dafür gekündigt werden könnte oder nicht. Wenn es soweit gekommen ist, ist das Gleichgewicht wirklich deutlich verschoben und ich kann das Spiel dann wirklich nicht mehr weiter mitspielen. Im schlimmsten Fall wird das ja dann auch zu einer Haftungsfrage, wenn was schief geht und dann wird ganz genau geschaut wer wann was angemerkt hat und wer nicht.
Man sollte keine Dummheit zweimal begehen, die Auswahl ist schließlich groß genug. ~ Jean Paul Sartre